Das Gendern in Texten ist ein hochemotionales Thema. Selten wurde ich für etwas so angegriffen, wie für die Verwendung von gegenderten Ausdrücken in Postings o. Ä. Als Person, die sich mehrere Jahre auf wissenschaftlicher Ebene mit der Thematik auseinandergesetzt hat, habe ich den Eindruck, dass die Ablehnung dem Gendern gegenüber auch in einer Unwissenheit begründet liegt; ich denke, dass gewisse Positionen zum Gendern nur dann verstanden werden können, wenn ein Blick auf die historischen Prozesse geworfen wird, die dazu geführt haben, dass heute überhaupt Debatten um das Gendern geführt werden (können). Um meine Punkte klarzumachen, werde ich aber ein wenig ausholen müssen.
Zunächst möchte ich darauf eingehen, dass oftmals als Argument gegen das Gendern betont wird, dass Gendern sexistisch sei, weil es den Blick erst recht auf den Unterschied zwischen Männern und Frauen richte, wobei Geschlecht eigentlich nur ein Merkmal von vielen darstelle. Nun – dem ist nicht so: Geschlecht stellt eine fundamentale Kategorie in unserer Gesellschaft dar. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir ein unbekanntes Gegenüber in Bruchteilen einer Sekunde einem Geschlecht zuordnen. Ist dies nicht möglich, löst das Irritation aus; es ist gesellschaftlich sehr stark gescriptet, wie wir Männern und Frauen gegenübertreten, wie wir ihnen begegnen und mit ihnen umgehen. Kann ich mein Gegenüber nicht zuordnen, verliere ich also meine „habituelle Sicherheit“, wie Michael Meuser das nennt. Eine Folge davon ist, dass Menschen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, ständig mit Blicken, Fragen und natürlich auch anderweitigen Kommentaren (und ja, auch mit gewalttätigen Attacken) konfrontiert werden. Ika Elvau zeigt sich geschlechtlich nicht eindeutig in der Öffentlichkeit und hat in der Gedichtsammlung „Inter*Trans*Express“ (2014) in Gedichten dargestellt, auf diese Weise als „Gender-Erklärbär*in“ auftreten zu müssen, d. h. ständig mit einem Gegenüber in Gespräche über das eigene Geschlecht verwickelt zu werden: Nach Elvau handelt es sich dabei um einen 24/7-Job, Urlaub habe man nur alleine zu Hause (ohne Spiegel). Menschen werden also sofort (!) einem Geschlecht zugeordnet und dies passiert anhand von gesellschaftlich sehr stereotypen Vorstellungen. Wie wirkmächtig diese sind, zeigt sich beispielsweise an meinem Sohn (10), der – ohne Witz – auch im Jahr 2024 von 90 % der Personen, die ihn nicht kennen, als Mädchen angesprochen wird, weil er lange Haare hat. Über Jahrtausende war es überhaupt nicht möglich, nicht geschlechtlich eindeutig auf die Straße zu gehen – ohne als ‚Monster‘ betrachtet und attackiert und angefeindet zu werden (oder beispielsweise wie im 19. Jh. als Freak auf einem Jahrmarkt ausgestellt zu werden). Die Bezeichnung ‚Monster‘ wähle ich nicht zufällig, denn es ist belegt, dass in der Antike Babys, die mit nicht eindeutigen Genitalien geboren wurden, als ‚Monster‘ (lat. monstrare = zeigen), d. h. als Zeichen, gesehen wurden, dass die Götter die Ordnung als bedroht ansahen. Die Babys wurden übrigens umgebracht.
Ordnung bedeutet(e) also Zweigeschlechtlichkeit – so gut wie ohne Ausnahme (Ausnahmen gibt es z. B. für göttliche Instanzen). Bereits für die Antike lassen sich in diesem Zusammenhang stereotype Vorstellungen nachweisen, die mit den Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden wurden. So wurde Männlichkeit mit Geist, Denken und Aktivität verbunden, Weiblichkeit hingegen mit der Erde, dem Aufnehmenden, Passiven. Diese Vorstellungen halten sich bis in die Gegenwart: Auch heute noch kennen wir die Erzählungen von den passiven Eizellen und den aktiven Spermien, die sich ein Wettrennen liefern u. v. a. In der Genetik wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass die Entwicklung zu einem männlichen Körper aktiv durch Gene auf dem Y-Chromosom initiiert wird, während die weibliche Entwicklung quasi eine ‚Default-Einstellung‘ sei, die sich angelegt auf den X‑Chromosomen quasi ohne Aktivierung automatisch vollziehe. Basierend auf diesen Vorstellungen von männlichen und weiblichen körperlichen Gegebenheiten wurde den Frauen lange Zeit abgesprochen, bestimmte intellektuelle Leistungen etc. überhaupt vollbringen zu können. Die Referenz auf die ‚biologischen Gegebenheiten‘ führte also dazu, Frauen von gesellschaftlichen Bereichen wie (universitärer) Bildung und Erwerbsarbeit auszuschließen – denn Frauen seien nun mal dazu gemacht, als Mütter und Fürsorgerinnen zu Hause zu bleiben (siehe die Positionen der Evolutionsbiologie). Ich denke, es ist kein Geheimnis, dass über Jahrtausende die Geburt als Mädchen oder Junge festlegte, welche Möglichkeiten der Person für das weitere Leben offenstanden.
Die biologische Forschung zu den Geschlechtskörpern passierte also, wie oben erläutert, nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einem gesellschaftlichen Umfeld, das die binäre Geschlechternorm als gegeben nahm. Immer wieder wird als Argument vorgebracht, dass es die biologische Unterscheidung zwischen Mann und Frau halt nun mal gebe, sie ließe sich nicht wegdiskutieren. Dazu kann ich sagen, dass diese biologische Norm ab dem 18./19. Jh. eingehend erforscht wurde, als detailliertere Einblicke in die Embryonalentwicklung möglich wurden. Dabei zeigte sich, dass der menschliche Körper tatsächlich quasi eine hermaphroditische Anlage besitzt, d. h., es ist möglich, dass XY-chromosomale Menschen äußerlich als Mädchen zur Welt kommen und umgekehrt. Es gibt dazu diverse ‚medizinische Diagnosen‘, beispielsweise kann es sein, dass der embryonale Körper männliche Hormone nicht ‚lesen‘ kann. Diese Androgenresistenz führt dazu, dass Menschen mit XY-Chromosomensatz äußerlich als Mädchen auf die Welt kommen. Die Resistenz kann allerdings auch nur partial sein, was zur Folge hat, dass die betroffenen Personen mit uneindeutigem Genitale auf die Welt kommen – sie sind auch nach außen hin intergeschlechtlich. Bei den erstgenannten liegt wiederum eine Diskrepanz zwischen innen und außen vor: Äußerlich sieht der Körper weiblich aus, innen sind Hoden zu finden, keine Gebärmutter und Eierstöcke. Dieses Wissen um die vielfältigen Zwischenstufen führte ab dem 19. Jahrhundert aber erst recht dazu, die Pole als Norm zu betrachten. Dies geschah wohl nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als Frauen begannen, mehr Rechte einzufordern (Hochschulzugang, Wahlrecht etc.). Zwischenstufen sollte, allerdings – auch um den Personen ‚ein glückliches, normales‘ Leben zu ermöglichen – unsichtbar gemacht werden. Dies erlangte insbesondere ab den 1950er Jahren Relevanz. Denn zu diesem Zeitpunkt begann ein US-amerikanischer Psychologe, John Money, mit intergeschlechtlichen Kindern zu arbeiten. Er hatte zuvor mit trans Personen gearbeitet und festgestellt, dass biologische Gegebenheiten und gefühlte Geschlechtsidentität auseinanderfallen können. Dies verleitete ihn zu der These, dass jedweder Person in den ersten beiden Lebensjahren jedwede Geschlechtsidentität anerzogen werden könne. Er griff den Begriff gender aus der Linguistik auf und benutzte ihn fortan für das ‚soziale Geschlecht‘ in Abgrenzung zu sex (dem biologischen Geschlecht). Diese Unterscheidung wurde von der Geschlechterforschung/der feministischen Forschung begeistert aufgenommen. Frauen sollten endlich nicht mehr auf ihren Körper fixiert werden und ihnen sollte zugestanden werden, alles zu tun, was Jahrtausende lang nur Männern vorbehalten war.
Für die betroffenen intergeschlechtlichen Kinder, die in die Praxis von Money kamen, hatte das Konzept allerdings die fatalsten Folgen. Money entwickelte ein Behandlungskonzept für Kinder mit nicht eindeutigen Genitalien, das sich in den Folgejahren in der ganzen westlichen Welt durchsetzte. Es besagte: Die Genitalien der Kinder sollten so schnell wie möglich operativ korrigiert, d. h. geschlechtlich vereindeutigt, werden, um Normalität herzustellen. Die Kinder sollten der gewählten Geschlechtsidentität gemäß erzogen werden, ohne ihnen mitzuteilen, was mit ihnen geschehen war. Eine Tabuisierung des Themas sollte jedwede ‚Unsicherheit‘ vermeiden. Da es operativ lange Zeit einfacher war, etwas wegzuschneiden als etwas ‚anzunähen‘, wurden aus vielen Betroffenen Mädchen gemacht. Das ‚Wegschneiden‘ von als zu klein erachteten Penissen (kleiner als 2,5 cm nach der Geburt) führte aber u. a. zum Verlust von sexueller Empfindsamkeit, eine künstlich hergestellte Vagina muss ständig mit Platzhaltern gedehnt werden, damit sie irgendwann heterosexuelle Sexualkontakte ermöglicht … Früher war es auch gesetzlich vorgesehen, dass ein Geschlechtseintrag spätestens eine Woche nach der Geburt zu erfolgen hatte. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass diese Tatsache und der Usus, dass Eltern bereits während der Schwangerschaft immerfort die Frage ‚Was ist/wird es denn?‘ gestellt bekommen, den Stress, hier möglichst schnell eine Entscheidung zu treffen, drastisch erhöhten. Viele Geschlechtszuweisungen erwiesen sich jedoch Jahre später als falsch: Die erwachsen gewordenen Personen wollten die Zuweisung ändern oder sich einfach nicht entscheiden und ‚dazwischen‘ bleiben. Die körperlichen Schäden aber waren irreversibel. Die anhaltende Tabuisierung der Geschehnisse bis ins Erwachsenenalter führte zudem zu psychischen Problemen; ab den 1990er Jahren, als nun die ersten Personen, denen diese Behandlung angedeiht worden war, erwachsen wurden, gab es immer mehr Betroffene, die sich an die Öffentlichkeit wagten und das Behandlungsprozedere anprangerten. Letztlich mit Erfolg – denn in vielen Ländern sind mittlerweile geschlechtsanpassende operative Eingriffe an Kleinkindern verboten. In Österreich ist dies im Jahr 2024 noch nicht der Fall. Aber auch hier beraten nunmehr interdisziplinäre Teams aus verschiedenen medizinischen Bereichen darüber, wie in den einzelnen Fällen vorgegangen werden soll. Es gilt jedenfalls, keine vorschnellen (irreversiblen) Entscheidungen ohne Einbindung der Personen mehr zu treffen.
Die Vorgehensweise, Kindern das binäre Geschlechtersystem operativ auf den Leib zu schreiben, um sie glücklich zu machen, weil sie nunmehr ‚normal‘ sind, hat weltweit tausende Leidensgeschichten erzeugt. Tausende (Kinder‑)Körper wurden über Jahrzehnte hinweg operiert und verstümmelt im Namen der Normalität und der Norm. Wie die Behandlung von Intergeschlechtlichkeit zeigt, ist es also nicht möglich, die ‚Biologie‘ des Körpers einfach auszublenden, einfach willkürlich ein Geschlecht zu wählen. Aber der Blick auf Intergeschlechtlichkeit verdeutlicht auch, dass die Biologie vielfältig ist und nicht nur zwei Optionen bereitstellt. Ein Blick auf den Geschlechtskörper reicht oft nicht aus, um hier Entscheidungen zu treffen, weil sehr viele Faktoren zusammenspielen. Das Beharren darauf, dass es ‚die Biologie‘ halt einfach gibt, ist es übrigens auch, was Judith Butler in das „Unbehagen der Geschlechter“ (engl. Original 1990) moniert: Wie oben dargestellt, ist das biologische Verständnis von Geschlecht, von sex, auch kulturell geprägt, daher stellt es sich laut Butler eigentlich als gender dar. Sie will also nicht den Körper vergessen, ausblenden und nur auf kulturelle Faktoren setzen, sondern sie verweist vielmehr auf die soziale Konstruiertheit des biologischen Körperverständnisses. Dabei argumentiert sie selbst nicht historisch, das hat wohl zu vielen missverständlichen Lesarten ihres Textes beigetragen. Butler geht es zudem um eine Kritik an der sogenannten heteronormativen Matrix, an dem Verständnis, dass es nur als normal gilt, wenn der vergeschlechtlichte Körper, die Geschlechtsidentität und das sexuelle Begehren übereinstimmen (männlicher Körper, männliche Geschlechtsidentität, Frau als Sexualpartnerin und umgekehrt). Daher setzt sie auf den Performanz-Begriff, um zu zeigen, dass diese Normalität/Realität eine stets im Alltag über Dutzende kleiner Handlungen hergestellte ist. Über Handlungen, die diese Einheit aufbrechen, wie das Crossdressing, kann demnach aufgezeigt werden, dass die Einheit nicht so natürlich ist wie lange Zeit angenommen. Der Begriff des „Doing Gender“ ist nicht von Butler, aber das Konzept folgt natürlich ähnlichen Überlegungen; es stammt zudem aus dem Jahr 1987 (West/Zimmermann), ist also bereits vor dem „Unbehagen der Geschlechter“ erschienen.
Es gäbe hier noch viel mehr Geschichten zu erzählen, von trans Personen, von gleichgeschlechtlich begehrenden Personen und ihren Erfahrungen mit der heteronormativen Matrix … Aber ich wollte am Beispiel Intergeschlechtlichkeit verdeutlichen, wo ein Ausgangspunkt der Formen des Genderns mit Doppelpunkt, Gender-Gap oder Asterisk liegt. Viele intergeschlechtliche Menschen möchten gar nicht ‚dazwischen‘ leben, sondern einfach als Männer oder Frauen gesehen werden. Aber das Gendern zollt dem Umstand Respekt, dass es mehr gibt als nur zwei Geschlechter, mehr als das binäre System, mehr als diese vermeintliche Normalität. Es möchte sich mittels einer Veränderung der sprachlichen Praktiken gegen die bisherige, aus den oben genannten Gründen massiv problematische, Praktik des Unsichtbarmachens stellen.
Zu gendern, mit Doppelpunkt oder Asterisk, hat für mich also nichts damit zu tun, mich moralisch überlegen fühlen zu wollen, zu den Guten zählen zu wollen o. Ä. Es hat für mich damit zu tun, betroffenen Personen Respekt zu zollen, sie nicht mehr unsichtbar machen zu wollen und zu verstecken, wie dies Jahrtausende lang Usus war. Die oben beschriebenen Praktiken des Unsichtbarmachens (wie der Tötung in der Antike oder der Genitaloperationen im Kleinkindalter im 20. und 21. Jh.) betrafen weltweit tausende Personen – es geht hier also nicht um eine winzig kleine Minderheit, die plötzlich überrepräsentiert wird. Wie an diesem langen Text auch zu bemerken ist, ist es zudem durchaus möglich, verständlich (in Bezug auf das Gendern) und gendersensibel zu schreiben.